Juli
17
„Drüben und drüben – zwei deutsche Kindheiten“ von Schmidt und Wagner
Juli 17, 2020 | | Schreibe einen Kommentar
Zahlreiche Faktoren machen das Bild einer Kindheit aus – das Elternhaus, Beziehungen zwischen Geschwistern, Freunde und die Atmosphäre in der Schule. Unsere Kindheit hängt auch von den Bedingungen des Landes, in dem wir geboren wurden, ab. Der Alltag, in dem wir aufgewachsen sind, kann für andere Menschen, die in einem anderen Land leben, völlig fremd sein. Wie sehen die Kindheiten von zwei Jungen aus, die in getrennten Teilen eines Landes, das einmal Eins war, aufwachsen? Obwohl beide Jungs Deutsche sind und dieselbe Sprache sprechen, verstehet Einer das Leben des Anderen vom Drüben nicht.
Jochen Schmidt und Dawid Wagner erzählen in ihrem Buch „Drüben und drüben – zwei deutsche Kindheiten” über ihre Kinderjahre, die sie auf beiden Seiten der innendeutschen Grenze verbracht haben. Jochen Schmidt wächst im Osten, in Neubauten, in einer DDR-Wirklichkeit auf, Dawid Wagner dagegen lebt im Westen Deutschlands. Sie erzählen gemeinsam, was sie in Erinnerungen aus dieser Zeit behalten haben – sie erzählen vom Alltag, den sie als kleine Jungen erlebten.
Das Buch besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil erzählt von der Kindheit von Jochen Schmidt in der DDR und ist in 13 Kapitel gegliedert. Der zweite Teil ist von Dawid Wagner, aber die Thematik und die Kapiteleinteilung ist identisch; beginnend mit der Beschreibung des Elternhauses und seiner Räume, des Gartens, der Schule, Spielplätze, Autos, Urlaub mit den Eltern bis zum Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989. Eine solche thematische Gliederung gibt den Lesern mehrere Möglichkeiten das Buch zu lesen. Man kann mit dem ersten Teil beginnen und dann, wie es üblich ist, zu dem zweiten Teil übergehen. Man kann aber auch, um beide Wirklichkeiten besser vergleichen zu können, erst den ersten Kapitel von Schmidt und dann den ersten von Wagner lesen. Jeder Kapitel ist ein abgeschlossenes Modul, das ein Thema behandelt, und es ist unwichtig, ob man das Buch mit dem ersten Kapitel, in der Mitte oder mit den letzten Kapiteln zu lesen beginnt. Diese Einteilung gibt dem Leser ein Gefühl von Wahlmöglichkeit und Freiheit das Buch auf seine eigene Art und Weise zu lesen und sich mit dem Inhalt auseinanderzusetzen.
Jeder Kapitel ist eine Kombination aus nicht miteinander verknüpften Assoziationen – die Autoren gehen von einem Konzept aus, es kann z.B. die Küche in ihrem Elternhaus sein, und beide erzählen, woran sie das Bild ihrer Küche oder eines anderen Ortes erinnert. Viel Aufmerksamkeit schenken sie auch den Gegenständen, die sich in einzelnen Räumen befanden, ihrem Aussehen und ihrer Verwendung, denn es lässt sich über jeden von ihnen eine Kurzgeschichte oder eine Anekdote erzählen. Auf diese Weise erfahren wir zum Beispiel, dass die Mutter von Schmidt sich niemals geschminkt hat und darauf stolz war. Sie meinte, dass es nur Leute tun, die zu viel Aufmerksamkeit ihrem Äußeren schenken. Die Mutter von Wagner dagegen hatte in ihrem Nachtschränkchen mehrere Parfums und Lippenstifte, die sie oft benutzte. Der Autor kann sich noch heute an ihren Duft erinnern. Auf diese Weise gehen die Autors vom Allgemeinen zu den Details über und der Leser lernt ihre Familien, Gewohnheiten und ihre Erinnerungen kennen. Die Kapiteln sind unterschiedlich lang. Für Erinnerungen, die Schmidt auf fünf Seiten beschreibt, braucht Wagner beispielweise sieben Seiten. Alles hängt von der Anzahl der Erinnerungen des Autors und von der Art und Weise auf welche die Erinnerungen erzählt werden ab.
Ein besonderes Augenmerk verdienen die letzten Kapiteln beider Teile. Sie erzählen davon, wo sich die Jungs am Tag des Mauerfalls befanden und welchen Eindruck dieses Ereignis auf sie gemacht hat. Als Jochen Schmidt es erfahren hat, diente er in der Armee und an diesem Tag feierte er Geburtstag, dann hatte er Brandenschutzdienst und danach musste er um 5 Uhr früh aufstehen, weil er Küchendienst hatte. Auf einmal sagte jemand: “Die Mauer ist auf” (Schmidt 2019:185). Schmidt erwiderte darauf: „Ein paar Stunden Schlaf wären mir lieber gewesen.“(Schmidt 2019:185). Das zeigt, dass diese Nachricht ihn überhaupt nicht beeindruckt hat. Die Wirklichkeit auf der anderen Seite der Mauer war ihm so fremd, dass ihm gar nicht bewusst war, was die Vereinigung beider Welten mit sich bringt. Schmidt lebte hier und jetzt. Wagner war in dieser Nacht in einer Diskothek und feierte dort den Independent-Tag. Er hat auch nicht sofort begriffen, was der Mauerfall bedeutete, aber er hatte den Eindruck, dass gerade hier und jetzt etwas Wichtiges passiert.
„Drüben und drüben – zwei deutsche Kindheiten“ ist aber kein Bilderbuch. Auf fast 400 Seiten des Buches finden wir kein einziges Bild. Die beiden Schriftsteller machen aber etwas anderes, sie benutzen ihren Talent, um mit Hilfe von detaillierten Beschreibungen Bilder in Köpfen der Leser zu malen. Dank der Methode der Beschreibung, vom Allgemeinen bis zu den Details, sind wir imstande uns sehr genau die Räume, Gegenstände und Gewohnheiten beider Familien vorzustellen und es scheint, dass Fotos und Bilder in diesem Buch nur den Endeffekt, den die Autoren erzielen wollten, beeinträchtigen würde.
„Drüben und drüben” ist ein besonderes Buch. Zwei talentierte deutsche Schriftsteller laden uns in ihre Welten der Erinnerungen und Erlebnisse ein, um die vergangene Wirklichkeit festzuhalten, und um zu zeigen, wie sie mit den Augen der Kinder gesehen, die der politischen Lage und derer Konsequenzen nicht genau bewusst waren, wahrgenommen wurde. Dieses Buch gibt uns die Möglichkeit zwei verschiedene, aber gleichzeitig sehr ähnliche Kindheiten zu vergleichen und sich eigene Gedanken darüber zu machen. Das Buch ist nicht für Kinder gedacht, aber Jugendliche und Erwachsene, die sich für dieses Thema interessieren, werden bestimmt mehrere spannende Stunden mit diesem Buch verbringen.
Anna Adamczyk
Quelle: Schmidt, J., Wagner, D. (2019): Drüben und drüben – zwei deutsche Kindheiten. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg, Oktober 2019